Interview

Cyberslacking und Aufschieberitis

Dr. Oliver J. Kaftan beschäftigt sich in seiner Forschung hauptsächlich mit dem Thema Prokrastination. Im Interview erklärt er, welche Folgen die Aufschieberitis hat – und wie das Management herausfindet, ob ein Mitarbeiter seine Aufgaben aufschiebt.

Ist Prokrastination in der Arbeitswelt tatsächlich ein Problem?

Die bisherigen Studien zum Thema «Prokrastination» haben sie meistens im akademischen Bereich bzw. bei Studierenden untersucht, aber natürlich kommt Prokrastination auch in der Arbeitswelt vor. Immer, wenn Menschen Ziele verfolgen, können sie die dafür notwendigen Tätigkeiten aufschieben. Das Phänomen gibt es in allen Lebensbereichen.

Lässt sich das Ausmass des Problems beziffern?

Eher nicht, denn naturgemäss sind die Auswirkungen auf Erfolgskennzahlen schwer zu messen. Auf individueller Ebene kann man jedoch sagen, dass Menschen, die häufiger prokrastinieren, im Durchschnitt häufiger gestresst sind, über ein niedrigeres Wohlbefinden berichten und weniger leistungsfähig sind. Das alles wirkt sich negativ auf das Unternehmen und die Volkswirtschaft als Ganzes aus.

Warum neigen Menschen zur Aufschieberitis?

Eine Theorie geht davon aus, dass Prokrastination ein sogenanntes Emotionsregulationsproblem ist: Eine unangenehme Aufgabe, etwa ein lästiges Telefonat, wird zugunsten einer angenehmeren Tätigkeit aufgeschoben. Der oder die Betreffende surft dann beispielsweise im Internet, um sich kurzfristig besser zu fühlen. Ein weit verbreitetes Phänomen ist auch das sogenannte «Cyberslacking». Darunter versteht man, dass Angestellte statt am PC zu arbeiten, z.B. lieber den Urlaub planen oder auf sozialen Netzwerken unterwegs sind. Viele Unternehmen haben den Zugang zu sozialen Netzwerken gesperrt, aber natürlich können die Mitarbeitenden dann immer noch prokrastinieren, indem sie etwa zum privaten Smartphone greifen, mit Kolleginnen bzw. Kollegen quatschen, Kaffee trinken oder tagträumen.

Eine unangenehme Aufgabe, etwa ein lästiges Telefonat, wird zugunsten einer angenehmeren Tätigkeit aufgeschoben.

Was genau versteht man unter Prokrastination?

Gemäss einer weit verbreiteten Definition bezeichnet Prokrastination das freiwillige Aufschieben von beabsichtigten, notwendigen oder wichtigen Tätigkeiten trotz des Wissens um potentiell negative Konsequenzen. Das bedeutet auch, dass das Problem der Person, die aufschiebt, bewusst ist.

Wie findet das Management heraus, ob ein Kollege entsprechende Probleme hat?

Eigentlich könnte man durch direktes Nachfragen beim Mitarbeiter in Erfahrung bringen, ob er zum Aufschieben neigt und welche Probleme damit verbunden sind. Dies funktioniert jedoch nur dann, wenn eine Unternehmenskultur herrscht, die allen Kolleginnen und Kollegen das Gefühl gibt, eigene Schwächen zeigen zu dürfen. Da es ein sozial unerwünschtes Phänomen ist, wird es häufig verschwiegen oder abgestritten – falls es nicht nachgewiesen werden kann, beispielsweise anhand der Webseiten, die Mitarbeitende während der Arbeitszeit besuchen. Darüber hinaus können auch Indikatoren wie eine schlechtere Leistung oder längerfristig eine schlechtere Gesundheit der betroffenen Person Hinweise auf mögliches Prokrastinationsverhalten liefern.

Welche Rolle spielt die Leistungskontrolle?

Wenn Vorgesetzte bei einem Auftrag eine Deadline geben, aber auf die Kontrolle des Arbeitsfortschritts verzichten, kann die Prokrastination im Verborgenen bleiben.

Zu welchen Problemen – ausser, dass Aufgaben zu spät erledigt werden – kann Prokrastination führen?

Das ist sicherlich eine Frage, wie stark jemand dazu neigt. Es gibt wohl fast niemanden, der nie prokrastiniert. Bei Personen, die das nur selten tun, herrscht in der Regel auch kein Leidensdruck. Bei chronischer Aufschieberitis allerdings können die negativen Konsequenzen sehr vielfältig und teilweise gravierend sein: Prokrastination führt zum bereits erwähnten Leistungsabfall und zu Misserfolgen, etwa, wenn ein bestimmtes Projekt nicht so gut läuft oder nicht rechtzeitig fertig wird. Wiederholter Misserfolg wirkt sich negativ auf die Karriere aus und kann im Extremfall zum Jobverlust führen.

Welche psychischen Folgen hat das für den Betroffenen?

Er ist insgesamt gestresster, was wiederum zu verschiedenen körperlichen und psychischen Problemen führen kann, wie etwa Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Schwächung des Immunsystems. Manche neigen auch zu gesundheitsschädlichen Bewältigungsstrategien wie beispielsweise Alkoholkonsum und machen weniger Sport. Über die Zeit können sich sogar klinisch relevante Symptome wie eine Depression oder Angststörung entwickeln. Menschen, die chronisch zum Aufschieben neigen, fühlen sich oft auch schlechter und sind mit ihrem Leben im Durchschnitt weniger zufrieden. Prokrastination kann auch zu sozialen Problemen im Büro führen. Wenn beispielsweise eine Person im Team seine Aufgaben immer aufschiebt, nie rechtzeitig fertig wird, bekommt die Person Probleme: Sie wird sozial abgewertet, vielleicht sogar ausgegrenzt. Damit einhergehen können Scham und Schuldgefühle.
Bei manchen Menschen kann die Aufschieberitis sich selbst verstärken. Dann wird es noch schlimmer.

Menschen, die chronisch zum Aufschieben neigen, fühlen sich oft auch schlechter und sind mit ihrem Leben im Durchschnitt weniger zufrieden.

Können Sie das erklären?

Das Verdrängen einer unangenehmen Tätigkeit verbessert ja kurzzeitig das Wohlbefinden. So wird eine scheinbar erfolgreiche Bewältigungsstrategie eingeübt, die schliesslich zu einer Gewohnheit wird.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Beratungstätigkeit gemacht?

Ich beobachte sehr häufig, dass es Menschen heutzutage sehr schwerfällt, sich von Ablenkungen – vor allem ihrem Smartphone – abzuschirmen. Sie haben Mühe, innere Impulse, die zu schneller Befriedigung führen, zu unterdrücken. Viele haben auch verlernt, negative Gefühle auszuhalten. Das begünstigt aufschiebendes Verhalten.
Die breite Öffentlichkeit belächelt das Phänomen oft ein wenig: Jeder prokrastiniert doch ab und zu, also kann es kein grosses Problem sein. Das ist es aber. Die negativen Konsequenzen überwiegen deutlich die positiven.

Gibt es Persönlichkeiten, die besonders anfällig für Prokrastination sind?

Nach dem aktuellen Stand der Forschung ist Gewissenhaftigkeit jenes Persönlichkeitsmerkmal, das am stärksten mit Prokrastination korreliert, und zwar negativ: Je gewissenhafter eine Person also ist, umso weniger prokrastiniert sie. Zur Gewissenhaftigkeit gehören Tugenden wie Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Ordnungsliebe. Aber wie in so vielen Fällen, sind auch hier Extreme eher kontraproduktiv, denn man kann sich auch im Organisieren und Ordnung machen verlieren, so dass das ständige Aufräumen und Putzen selbst zur Prokrastination wird.
Daneben gibt es noch andere wichtige Persönlichkeitsmerkmale, wie etwa Extraversion und Neurotizismus. Diese beiden Merkmale bestimmen zwar nicht, wie stark jemand prokrastiniert, aber sie sind relevant, um vorherzusagen, wie eine Person sich verhalten könnte. Eine extravertierte Person wird sich beispielsweise eher mit anderen unterhalten oder telefonieren statt zu arbeiten. Eine weniger extravierte Person wird andere Tätigkeiten wählen.

Gibt es Branchen, in denen die Prokrastination überdurchschnittlich häufig auftritt?

Hierzu gibt bislang nur wenig Forschung, allerdings lassen sich aufgrund anderer Forschungsbefunde gewisse Schlüsse ziehen. Gut belegt ist beispielsweise, dass aversive Aufgaben, also Aufgaben, die einen gewissen Widerwillen auslösen, eher aufgeschoben werden. Wobei die Menschen sich natürlich darin unterscheiden, was aversiv für sie ist. Aversiv kann etwa bedeuten, dass eine Aufgabe zu monoton oder zu einfach ist, aber auch zu schwer. Daher liegt es nahe, dass z.B. in Branchen mit monotonen Arbeitsabläufen Prokrastination eher auftreten kann.

Ist es nicht auch ein Problem, dass die Kollegen heute in vielen Unternehmen sehr selbstverantwortlich arbeiten?

In gewisser Weise schon. Denn bei Tätigkeiten, in denen die Mitarbeitenden einer engmaschigen Kontrolle unterliegen und klare Arbeitsabläufe definiert sind, haben die Mitarbeitenden gar nicht die Chance, herumzutrödeln. Das heisst aber nicht, dass Freiheit und Autonomie schlecht wären. Die Autonomie ist wichtig für die Motivation. Vorgesetzte müssen herausfinden, wie viel Freiheit in ihrem Betrieb Sinn macht, um das Verhalten der Kollegen sinnvoll steuern zu können.

Was kann man in Unternehmen tun, um Mitarbeitern zu helfen oder Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen?

Essentiell ist sicherlich, dass Mitarbeitende Ziele haben, mit denen sie sich identifizieren können. Dies lässt sich durch Mitbestimmungsmöglichkeiten und eine konstruktive Kommunikation im Unternehmen fördern.
Unsere eigene Forschung zeigt ausserdem, dass Ziele zwar wichtig sind, aber um diese zu erreichen, ist es wichtiger, auf den Prozess oder den Weg zu fokussieren statt nur auf das angestrebte Ziel. Das Fokussieren auf einzelne Schritte kann dazu motivieren, den Weg immer weiter bis zum Ende zu gehen. Steht hingegen nur ein noch weit entferntes Jahresziel im Fokus, kann dies demotivieren, weil es noch so weit weg ist und jeder einzelne Schritt kaum einen Unterschied macht.
Hilfreich sind auch Massnahmen wie eine klare Trennung von Arbeits- und Pausenzeit, psychologische Angebote und Seminare für Mitarbeitende zu Themen wie «Umgang mit negativen Gefühlen und Stress» und «Achtsamkeit».

Zur Person

Dr. Oliver J. Kaftan arbeitet am Psychologischen Institut der Universität Zürich am Lehrstuhl für «Entwicklungspsychologie: Erwachsenenalter».

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Mehmet Toprak ist freischaffender Journalist.

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