Geständnisse einer Vorzimmerdame

Das Bullshit-Bauchgefühl

Natürlich sollte man seinen Chef ernst nehmen, aber als Assistentin ist das nicht in jedem Fall die beste Strategie. Dabei darf man nicht ausser Acht lassen, dass er sich selbstverständlich immer ernst genommen fühlen möchte. In solchen Situationen kommt das jeder Assistentin angeborene schauspielerische Talent voll zum Tragen. Man notiert die Wünsche, nickt, sagt, man kümmere sich darum, und vergisst dann die ganze Sache. Eine gute Sekretärin kann sich bereits während des Gesprächs mit ihrem Chef auf ihr Bullshit-Bauchgefühl verlassen. Das heisst, sie weiss sofort, dass sich die Sache in Luft auflösen wird, bevor der Tag um ist.

Ich hätte schon eine Reise nach Indien zu einer wichtigen Management-Konferenz buchen sollen, die in Tat und Wahrheit in Italien stattfand. Immerhin beginnen beide Länder mit dem gleichen Buchstaben. Aber man kann von einem Manager unmöglich erwarten, dass er sich auch noch den Rest merkt. 

Die Spreu vom Weizen trennen 

Das Bullshit-Bauchgefühl hilft den Spreu vom Weizen zu trennen. Es ist zum Beispiel dem stets gegenwärtigen Wunsch nach Vorankommen zu verdanken, dass ein Chef nach so manchem Networking-Anlass mit einer Ladung Visitenkarten zurückkehrt und mitteilt, dass er mindestens die Hälfte dieser Personen zeitnah zum Lunch treffen will. Wenn ich mit allen ein Essen vereinbart hätte, deren Visitenkarte mir mein Chef auf den Tisch knallte und von denen er zwei Tage später nicht mehr wusste, wer sie waren, geschweige denn, was er von ihnen wollte, dann wäre zwar der Italiener um die Ecke saniert, aber mein Chef auf der Karriereleiter kein Stück weiter oben.

Der unbändige Wille eines Vorgesetzten, überall dabei sein zu wollen und der halben Welt ein Treffen zu versprechen, kann mitunter absurde Blüten treiben. Es kam schon vor, dass am späteren Nachmittag noch zig Personen meinen Chef dringend zu sprechen wünschten. Auf den Einwand meinerseits, dass es erstens etwas spät und zweitens der Terminkalender bereits ausgebucht sei, kam von allen Bittstellern die etwas genervte Antwort: «Ihr Chef hat mir aber versprochen, dass Sie das noch einrichten werden!»

Unrealistisches Zeitmanagement ist Chefsache

In solchen Momenten muss das Bullshit-Bauchgefühl eine weise Auswahl treffen, während man gleichzeitig versucht, neben dem Verstand nicht auch noch die Contenance zu verlieren. Jetzt muss für die wichtigen Leute Platz geschaffen werden. Der Rest wird gekürzt oder vertröstet. Dass der Boss im Angesicht des Chaos sein Gesicht nicht verliert, fällt in die Zuständigkeit des Vorzimmers. Unrealistisches Zeitmanagement hingegen ist Chefsache.

Sollte das Bullshit-Bauchgefühl mal versagen und man kann auf die Frage «Wer ist denn dieser Herr Meier, den ich gleich treffen soll, und was will der von mir?» nur die Antwort geben: «Ich habe keine Ahnung. Sie wollten ganz dringend etwas sehr Wichtiges mit ihm besprechen, und er hat sich nun Zeit genommen und ist extra durch die halbe Stadt gefahren», dann gilt für die erfahrene Führungskraft nur eins: Improvisieren, was das Zeug hält, auch wenn’s weh tut, denn gut geblufft ist halb befördert.

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Die Autorin arbeitet seit vielen Jahren als Geschäftsleitungsassistentin in einem multinationalen, grossen Dienstleistungsunternehmen. 

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