Kolumne

Die Dringlichkeits-Lüge

Es ist 16.30 Uhr am Freitagnachmittag. Der Chef kommt ins Büro seiner Assistentin und erklärt: «Frau Meier, ich brauche dringend die Unterlagen zum Projekt Haifischflosse, bevor ich gehe. Das ist ganz wichtig. Ich muss am Weekend daran arbeiten. Fragen sie Hugentobler. Und dann bitte ausdrucken und mir mit Ringbindung übergeben. Danke.»

Frau Meier, die bereits dabei war, ihre Handtasche zu packen, weil sie mal früher nach Hause gehen wollte, ruft Hugentobler an. Keine Antwort. Sie schreibt ihm ein Mail. Während sie auf Antwort wartet, inspiziert sie die Ringbindemaschine und stellt fest, dass die Plastikringe fehlen. Sie geht an den PC zurück, um zu schauen, ob Hugentobler schon Antwort gegeben hat. Nichts. Langsam wird sie nervös. «Wo ist der denn jetzt, Gopfridschtutz!», brummelt sie leise vor sich hin. Sie ruft ihn auf sein Handy an und erwischt ihn an der Tramhaltestelle. Hugentobler erklärt missmutig, dass er die Unterlagen noch nicht parat habe. Der Chef hätte gesagt, er brauche sie erst nächste Woche und er, Hugentobler, müsse jetzt nach Hause, weil er seiner Frau versprochen habe, die Kinder zu hüten, damit sie ins Kino könne.

Frau Meier kennt keine Gnade. «Heiri, komm bitte zurück und mach das Zeug fertig. Der Chef braucht es dringend. Wenn du dich beeilst, dann schaffst du es vielleicht noch rechtzeitig nach Hause.» Hugentobler erklärt genervt: «Ich muss es ja erst fertigstellen und das dauert sicher noch eine Stunde. Ich rufe jetzt meine Frau an und sage ihr, dass sie einen Babysitter organisieren muss.»

So weit, so gut. Die Unterlagen sind in Arbeit und Frau Meier muss nur noch Plastikringe für die Bindemaschine besorgen. Der Chef will allerdings erst noch mit Herrn Huber verbunden werden, dann braucht er Hilfe, die Akte Adlerhorst zu finden und schlussendlich möchte er noch einen Kaffee trinken, den Frau Meier zu bringen hat. Ganz abgesehen vom kleinen Kaffeeklatsch, den er mit ihr halten will, zum Thema «Denken Sie, dass es karrierefördernd ist, wenn ich anfange Golf zu spielen?».

Endlich kann sie sich auf die Suche nach den Plastikringen machen. Sie läuft das Bürohaus Stockwerk um Stockwerk ab. Zuoberst hat sie Glück. Wieder in ihrem Büro, stellt sie erfreut fest, dass Hugentobler die Unterlagen geschickt hat. Es ist inzwischen 19.30 Uhr. Sie startet den Druckauftrag. Nach den ersten 10 Seiten gibt es einen Papierstau. Sie beseitigt ihn fluchend. Nach weiteren 50 Seiten muss sie die Druckerpatrone wechseln. Mit hochrotem Kopf sprintet sie zuletzt zur Bindemaschine, klemmt sich die Finger ein, ignoriert den Schmerz und macht die Arbeit tipptopp fertig. Triumphierend marschiert sie ins Büro des Chefs und findet es leer vor. Wo ist er hin? Sie ruft ihn auf dem Handy an. «Ach, Frau Meier, ich bin schon auf dem Heimweg. Sie waren nicht in Ihrem Büro, als ich ging. Legen Sie mir die Haifischflosse einfach auf den Schreibtisch. Ich sehe mir das am Montag an. Schönes Weekend.»

Und übrigens: Eine Studie hat ergeben, dass Führungskräfte viel weniger von Burnout und Depressionen betroffen sind als ihre Untergebenen. Die Gründe für die häufig auftretenden Burnouts auf dieser Gehaltsstufe sind «wachsende Arbeitsverdichtung» und «Termindruck». (Gallup-Healthways Well-Being-Index 2014)
 

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Tamara Krieger arbeitet seit vielen Jahren als Geschäftsleitungsassistentin in einem grossen multinationalen Dienstleistungsunternehmen.

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