Sterben und Tod

Der Klang, der bleibt

Weil unsere Gesellschaft zunehmend über Longevity redet, sprechen wir über das Unvermeidliche: das Sterben und den Tod. Dafür treffen wir jemanden mit einem aussergewöhnlichen Beruf.  Die ehemalige Radiomoderatorin Franziska von Grünigen bewahrt als Audiobiografin die Stimmen geliebter Menschen und macht Erinnerungen hörbar.

Ein Freitagnachmittag in der «Coalmine»-Bar in Winterthur. Stimmengewirr. Pulsierendes Leben. Ein unerwartet passender Ort, um über ein Thema zu sprechen, das uns alle betrifft: das Sterben, den Tod und die Spuren, die wir hinterlassen. Dafür treffen wir die selbständige Audiobiografin Franziska von Grünigen. 

Seit 2019 bewahrt die ehemalige SRF-Moderatorin Erinnerungen in erzählerischen, professionell bearbeiteten Audioaufnahmen, in denen Menschen über ihr Leben, ihre Erlebnisse, ihre Gedanken berichten – oft im Auftrag von Kindern, Enkeln oder den Erzählenden selbst. «Die meisten meiner Gesprächspartnerinnen und -partner sind zwischen 70 und 80 Jahre alt. Menschen, die mitten in ihrer zweiten Lebenshälfte stehen», erzählt sie. 

Doch sie spricht nicht nur mit älteren Menschen. Von Grünigen dokumentiert für den Verein «Hörschatz» auch die Geschichten von schwerkranken Eltern mit minderjährigen Kindern. «Ein Herzensprojekt, das ich 2020 mitbegründet habe und das sich durch Spenden finanziert.» Und wären ihre Audiobiografien nicht genug, stellt sie in ihrem Podcast «My last Goodbye» ihren Gästen Fragen zu den letzten Dingen des Lebens. Die Vergänglichkeit ist seit 2019 ihr zentrales Thema. Doch wie kommt’s, dass eine «Unterhaltungsnudel» zur Audiobiografin wird? 

«Mich faszinierte seit jeher, wie Menschen mit Verlust und tiefen Einschnitten umgehen», sagt von Grünigen. Diese Neugier zog sich bereits durch ihre gesamte journalistische Laufbahn, etwa in ihrer Zeit als Produzentin bei der SRF-Sendung «nachtwach», wo Menschen mit ihren Lebensgeschichten zu Wort kamen. «Immer wieder wurde mir dabei bewusst, wie sehr mich Brüche und herausfordernde Wendepunkte im Leben berühren.» 

Mit der Zeit begann sie jedoch, an ihrer Rolle im Unterhaltungsjournalismus zu zweifeln. Gute Laune verbreiten fühlte sich zunehmend oberflächlich an. Sie sehnte sich nach Tiefe, nach einer sinnstiftenden Aufgabe. Dann entdeckte sie eine deutsche Dokumentation über das Projekt «Familienhörbuch», das Audiobiografien für schwerkranke Eltern erstellt. «In diesem Moment wusste ich: Das ist es. Diese Arbeit verbindet alles, was mich antreibt – journalistisches Handwerk, tiefe Gespräche und den Mut, sich schwierigen Themen unerschrocken zu nähern.» Sie reduziert beim Radio und wird Audiobiografin. 

Tod darf kein Tabu sein 

Während der Tod in Franziska von Grünigens «Bubble» zum Leben gehört, beobachtet sie, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod nach wie vor in Grenzen hält. «Es scheint, als hätte er sich still und leise aus unserem Alltag zurückgezogen. Doch das Sterben ist keine Randerscheinung, sondern eine unumstössliche Realität.» Gerade deshalb setzt sie sich dafür ein, dass er nicht hinter verschlossenen Türen verbannt, sondern ihm Raum gegeben wird: «Trauer braucht Platz, Abschiednehmen muss möglich sein.» 

Die Audiobiografin stellte zudem die Tendenz fest, dass man schwierige Situationen oft allein durchsteht – «Schmerz und Trauer allein aushält». Dieser Individualismus, kombiniert mit der Angst, in die Privatsphäre anderer einzudringen, führe dazu, dass gemeinschaftliche Rituale verloren gingen. Während in anderen Kulturen ein viel freierer Umgang mit dem Tod und dem Abschiednehmen bestehe, werde bei uns immer wieder diskutiert, ob Kinder am Sarg von Verstorbenen Abschied nehmen und bei Beerdigungen dabei sein sollten, weil es sie angeblich verstören könnte.  

Von Grünigen findet es wichtig, dass Kinder Abschied nehmen können, wenn sie das wollen. Wichtig ist, dass sie dabei gut von Eltern begleitet und vorbereitet werden. «Der Umgang mit dem Tod darf nicht in der Unsichtbarkeit verschwinden. Wir sollten uns wieder trauen, ihn in unser Leben zu integrieren – nicht als Schreckgespenst, sondern als das, was er ist: ein unausweichlicher Teil unserer Existenz.» 

Trauer im Unternehmen 

Franziska von Grünigen hat in ihrem Arbeitsalltag nur selten direkt mit der Trauerkultur am Arbeitsplatz zu tun, doch sie begrüsst es, dass immer mehr Unternehmen Schulungen in Anspruch nehmen, um ihre Mitarbeitenden für den Umgang mit Trauer zu sensibilisieren. «Kommunikation ist hier entscheidend. Es geht nicht darum, das Thema totzuschweigen, sondern einen offenen und wertschätzenden Austausch zu ermöglichen.» Besonders grossartig sei es, wenn Arbeitgebende nicht nur Verständnis zeigten, sondern auch aktiv schwerstkranke Mitarbeitende unterstützten. «Unternehmen, die flexibel reagieren, finanzielle Entlastung schaffen und signalisieren: Komm, solange du kannst. Nimm dir jederzeit eine Auszeit, wenn du sie brauchst. Verbringe Zeit mit deiner Familie, solange sie dir bleibt.» 

Eine Begegnung mit einem Vater, dessen Audiobiografie sie aufgenommen hat, prägte sich ihr besonders ein. «Am Ende konnte er nicht mehr sprechen, sass im Rollstuhl, war auf einem Auge blind. Doch sein Team aus dem Unternehmen liess ihn nicht allein.» Jeden Tag sei jemand aus der Firma zu ihm nach Hause gekommen, um mit ihm Mittag zu essen. Ein kleines Ritual, das weit über eine Geste hinausgehe: Es hielt die Verbindung aufrecht. «Von Kolleginnen und Kollegen getragen zu werden, gibt Halt. Und es zeigt, dass Trauer am Arbeitsplatz nicht nur Platz haben darf, sondern muss.»

Die grösste Hilfe im Umgang mit Trauernden sei die ehrliche Anerkennung ihrer Trauer. «Hinsehen statt übergehen, ernst nehmen statt kleinreden – und vor allem nicht mit einer eigenen Geschichte überlagern.» Gerade innerhalb von Familien werde das Trauern oft zur Herausforderung. «Kinder trauern, Mütter oder Väter trauern und jeder versucht, den anderen zu schonen», erzählt sie. Doch genau diese gegenseitige Rücksichtnahme tut der Trauerverarbeitung nicht gut. Umso wichtiger seien die Arbeit von Familientrauerbegleitenden oder Plattformen, auf denen sich gleichgesinnte Trauernde finden können, um sich gegenseitig in der Trauer zu begleiten. 

Vorbereiten auf das, was kommt 

Wie steht es mit Testament, Patientenverfügung, Vollmachten? Obwohl Franziska von Grünigen sich täglich mit dem Thema Vergänglichkeit auseinandersetzt, ist sie selbst noch nicht ganz auf ihr Ableben vorbereitet. «Die Patientenverfügung liegt seit einem Jahr unausgefüllt auf meinem Schreibtisch», gibt sie mit einem Schmunzeln zu. Ausserdem steht ihr digitaler Nachlass noch als grosse Aufgabe bevor: Passwörter hinterlegen, Zugänge ermöglichen, Fotos ordnen. Manchmal werde ihr das morgens bewusst: «Ah, ich lebe noch. Aber wenn ich heute gestorben wäre, hätte ich meinen Kram immer noch nicht geregelt.» Dabei ist sie überzeugt: «Alles, was man frühzeitig regelt, entlastet jene, die zurückbleiben. Es gibt Orientierung inmitten all der emotionalen Wucht und des Alltags, der einfach weiterläuft.» Sich mit dem eigenen Abschied auseinanderzusetzen, sei deshalb kein düsteres Thema, sondern eine Form der Fürsorge. 

Wer sich jedoch mit Formularen und Dokumenten schwertut, kann sich der eigenen Vergänglichkeit auch auf eine andere Weise nähern – im Gespräch. Genau dazu lädt Franziska von Grünigen mit ihrem Podcast «My last Goodbye» ein. «Denn über den Tod nachzudenken, heisst auch, über das Leben nachzudenken. Und manchmal merkt man dabei, wie viel man eigentlich schon erreicht hat. Vielleicht kann man dann sogar sagen: Ich habe gelebt, ich habe das Leben genossen – es war toll!» 


«My last Goodbye» Folge 166: Christine Bachmann


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My last Goodbye

 

Über den eigenen Tod nachdenken, macht vielen Menschen Mühe. Sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, kann einen in vielen Dingen aber auch gelassener machen. Und selbstbestimmter. Mit «My last Goodbye» möchte Franziska von Grünigen dazu anregen, bereits zu Lebzeiten über den Tod nachzudenken. Über ihre letzte grosse (oder auch kleine?) Feier hat sich in Folge #166 auch Miss Moneypenny-Chefredaktorin Christine Bachmann Gedanken gemacht.

Hier geht es zur Folge.

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Christine Bachmann ist die Chefredaktorin von Miss Moneypenny.

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