Special: Tabus im Büro

Sexuelle Belästigung ist ein strukturelles Problem

Ungleiche Machtverhältnisse begünstigen sexuelle und sexistische Belästigung am Arbeitsplatz, weiss Binh Tschan, juristische Mitarbeiterin und Projektleiterin bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Ein Gespräch über die aktuelle Situation in Unternehmen, Prävention und Weiterbildung.

Jede dritte Frau und jeder zehnte Mann erlebte am Arbeitsplatz sexuelle oder sexistische Belästigung, wie die letzte grossangelegte Studie zu diesem Thema aus dem Jahr 2013 aufzeigt – Tendenz steigend. So erreichen die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich pro Jahr Hunderte von Anfragen zu dieser Thematik.

«Wobei die Anzahl von Belästigungen wohl schon vor 30 Jahren gross war, Betroffene sich aber bislang einfach nicht gemeldet haben», vermutet die Rechtsanwältin Binh Tschan, die als juristische Mitarbeiterin der Fachstelle in solchen Fällen berät und vermittelt. Dass sich zwischenzeitlich mehr Menschen bei der Fachstelle melden würden, führt Tschan auf die Einführung des Gleichstellungsgesetzes 1996 sowie auf die Sensibilisierung mittels Präventionsmassnahmen sowie der Thematisierung in Medien und Öffentlichkeit zurück.

«Betroffen von sexuellen und sexistischen Belästigungen sind vor allem neu angestellte Frauen, aber auch Lernende sowie Homo- und Bisexuelle, trans und non-binäre Menschen und Menschen mit Behinderungen», hält Binh Tschan fest. Frauen of Color sind zudem von Mehrfachdiskriminierung betroffen und erleben aufgrund stereotypischer Zuschreibungen auch am Arbeitsplatz verstärkt sexuelle Belästigungen.

Was diese Personen vereine? «Sie alle verfügen über wenig Macht in einem Unternehmen.» So sei belästigendes Verhalten in der Regel ein strukturelles Problem, sprich eine Machtdemonstration beziehungsweise ein Ausnutzen dieser Machtposition durch die belästigenden Personen – und das über alle Branchen hinweg. «Weil die Betroffenen über wenig Macht verfügen, ist es für sie schwierig, über das Erlebte zu sprechen und sich Unterstützung zu holen. Die Dunkelziffer ist daher sehr hoch.»

Doch wo beginnt sexuelle oder sexistische Belästigung? «Massgeblich ist immer das subjektive Empfinden einer Person. Was für die eine Person noch im Toleranzbereich liegt, beispielsweise ein sexuell konnotierter Spruch oder ein sexistischer Witz, überschreitet bei einer anderen die persönlichen Grenzen», weiss Binh Tschan.

Empfinde eine Person beispielsweise ein Verhalten als Belästigung und sehe der Rest des Teams oder der Abteilung dies nicht so, führe das häufig dazu, dass die betroffene Person ihre Wahrnehmung in Frage stellt. «Viele denken: ‹Bin ich vielleicht zu empfindlich? Vielleicht hätte ich die hohen Schuhe nicht anziehen sollen … Verliere ich jetzt meinen Job, wenn ich etwas sage?› Hier gilt ganz klar: Schuld und Scham sind nachvollziehbare Reaktionen. Wichtig ist aber, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Wenn sich etwas nicht okay anfühlt, dann ist es auch nicht okay.»

Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden

Dafür zu sorgen, dass sich alle Arbeitnehmenden im Arbeitsumfeld wohlfühlen, ist Pflicht aller Arbeitgebenden. «Das ist eindeutig Aufgabe der Führung. Deshalb ist es wichtig, dass in einem Unternehmen von ganz oben festgehalten wird, dass bei dieser Thematik eine Nulltoleranz herrscht.» Das bedeute, dass sich ein Unternehmen mit dem Thema sexuelle und sexistische Belästigung auseinandersetzen und feststellen muss, ob gewisse Machtstrukturen oder Abhängigkeiten bestehen, die gefährlich werden könnten, um präventiv dagegen vorzugehen.

«Die Prävention bezüglich sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz ist Führungsaufgabe. Die Geschäftsleitung und alle Führungskräfte sind dafür verantwortlich, Rahmenbedingungen für ein belästigungsfreies Arbeitsklima zu schaffen», betont Tschan. Hilfreich sei aber auch, wenn das Arbeitsumfeld etwas in diese Richtung bemerkt und es bei den Betroffenen direkt anspricht und Unterstützung anbietet.

Die unerlässliche Basis für die Verhinderung von sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz ist ein innerbetriebliches Regelwerk, das Orientierung schafft und deutlich festhält, dass sexuelle und sexistische Belästigung im Unternehmen nicht geduldet werden. Ein solches Reglement beinhaltet üblicherweise eine Grundsatzerklärung, klar definierte Rollen und Verantwortlichkeiten, verbindliche Richtlinien und Vorgehensweisen, einen Verhaltens- und Sanktionskatalog und Unterstützungsangebote für Betroffene.

Weitere Präventionsmassnahmen seien auch regelmässige Informationsanlässe oder Weiterbildungen für Kader und Mitarbeitende. Das Thema kann auch in Standort- oder Jahresgespräche einfliessen. Die Prävention umfasst auch die Information der Betroffenen darüber, wo sie Beratung oder Unterstützung erhalten. Es empfiehlt sich, eine oder mehrere (interne oder externe) Ansprech- oder Vertrauenspersonen zu bezeichnen, die als niederschwellige Anlaufstelle den Betroffenen unterstützend und vertraulich zur Seite stehen.

Wichtig sei, dass diese Anlaufstelle nicht beim HR angesiedelt ist. «HR kommt aufgrund seiner Positionierung zwangsläufig in einen Rollenkonflikt.» Deshalb empfiehlt Tschan, jemanden aus einem anderen Unternehmensbereich oder eben eine externe Vertrauensstelle zu beauftragen.

Aus- und Weiterbildung empfohlen

Um diese Massnahmen – falls noch nicht vorhanden – im Betrieb solide zu implementieren, empfiehlt Binh Tschan die Weiter­bildung «KMU konkret+», welche die Stadt Zürich als Teil einer breiteren Trägerschaft zur Prävention anbietet. «Das Programm ist nicht gratis, aber sehr kostengünstig.»

Wem die finanziellen Mittel fehlen, der könne aber auch auf das kostenlose Präventions-­Kit zurückgreifen (siehe Box), das Unternehmen dabei helfe, sexuelle und sexistische Belästigung zu thematisieren, Abläufe zu implementieren und interne oder externe Anlaufstellen zu benennen. Für Binh Tschan ist es zentral, dass etwas gemacht werde: «Denn das Thema sexuelle und sexistische Belästigung wird uns leider auch noch die kommenden Jahre beschäftigen.»

Präventions-Kit

Die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten SKG hat ein Präventions-Kit für einen belästigungsfreien Arbeitsplatz entwickelt. Das Präventions-Kit ist kostenlos und besteht aus drei Elementen: Informationsblättern, Leitfaden und Grundsatzerklärung sowie Filmen und E-Learning. Das Kit ermöglicht es Unternehmen, sexuelle und sexistische Belästigung zu thematisieren, Abläufe zu implementieren und interne oder externe Anlaufstellen zu benennen.
>> Hier geht es zum Präventions-Kit

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Christine Bachmann ist die Chefredaktorin von Miss Moneypenny.

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