Premium Icon Interview mit Anselm Grün

Was bedeutet sinnvolle Arbeit?

Anlässlich seines 80. Geburtstags sprechen wir mit Benediktinermönch und Führungskräftetrainer Anselm Grün über seine wertvollsten Einsichten zu guter Führung, ethischen Werten und Sinn in der Arbeit – und warum «Bewunderungszwerge» das Letzte sind, was wir brauchen. 

Stellen Sie sich vor, Sie «müssten» für einen Tag aus Ihrer Berufung ausbrechen. Wohin würden Sie gehen und was würden Sie tun?  

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Anselm Grün

Foto: zVg

Anselm Grün: Das wäre für mich eine absolute Identitätskrise. Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu tun – und habe es nie bereut, diesen Weg eingeschlagen zu haben. 

Sie besitzen langjährige Führungserfahrung.  Oft wird von «dienender Führung» gesprochen. Was bedeutet das für Sie? 

Dienen darf nicht moralisierend verstanden werden. Es geht nicht darum, sich aufzuopfern, sondern um Sinn und Ausrichtung. Ich stelle meine Fähigkeiten in den Dienst des Lebendigen, des Gelingens – bei mir selbst, bei den Mitarbeitenden und in der Organisation. Natürlich diene ich auch mir selbst. Es wäre falsch, das auszublenden. Aber wenn ich nur meine Macht inszeniere, verliere ich die Verbindung. Manche Führungskräfte sammeln in ihren Abteilungen geradezu «Bewunderungszwerge» um sich. Wer sie nicht bewundert, fliegt raus. Das ist nicht dienen. Das ist narzisstisch motivierte Machtsicherung. 

Wie hat sich das Führungsverhalten in den letzten Jahrzehnten verändert? 

Gerade im Mittelstand spüre ich, dass die emotionale Bindung an Unternehmen deutlich abgenommen hat. Früher war man stolz, für ein Unternehmen zu arbeiten. Man blieb, war loyal, identifizierte sich mit dem, was man tat. Heute ist das anders. Der Individualismus ist stärker geworden. Viele Menschen fragen: Was bringt mir das konkret für mein Leben? Das stellt Führung vor neue Herausforderungen. Es braucht mehr Sinnstiftung, mehr echte Verbindung und weniger Kontrolle.  

Wie sehen Sie grundsätzlich die aktuellen Entwicklungen in der Arbeitswelt – problematisch oder voller Chancen? 

Heute ist viel von Work-Life-Balance die Rede. Viele wollen nicht nur arbeiten, sondern auch leben. Das ist nachvollziehbar. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass Arbeit als etwas Negatives wahrgenommen wird, als notwendiges Übel. Dass das eigentliche Leben erst nach Feierabend beginnt. Dabei ist Arbeit ja ebenfalls ein Teil des Lebens. Deshalb bin ich vorsichtig mit dieser klaren Trennung zwischen Arbeit und Leben. Es braucht eine neue Wertschätzung dafür, was Arbeit sein kann.  

Viele Menschen scheitern derzeit an den Anforderungen des Systems. Was braucht es, um innerlich nicht auszubrennen?

Wer Verantwortung trägt, braucht einen inneren Ort der Ruhe. Darum ist es wichtig, dass man sich heilige Zeiten schafft – Zeitfenster, die einem ganz allein gehören.  

Was raten Sie konkret? 

Das kann ganz Unterschiedliches sein und muss nicht religiös geprägt sein. Beispielsweise kann man sich einfach bewusst eine Stunde Zeit für sich nehmen, spazieren gehen oder in Ruhe frühstücken. Entscheidend ist: Ich schaffe mir einen Raum, der nur mir gehört. 

Was waren in all den Jahrzehnten Ihre wertvollsten Ratschläge an Führungskräfte? 

Gute Führung beginnt mit Selbsterkenntnis. Wer sich selbst nicht kennt, trägt innere Konflikte nach aussen – oft unbewusst. Der Psychiater C. G. Jung nannte das «Schattenarbeit»: Alles, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, projizieren wir auf andere. Ein zweiter, oft vernachlässigter Aspekt ist die Frage nach der eigenen Kraftquelle. Viele Führungskräfte orientieren sich an Idealbildern: durchsetzungsstark, entscheidungsfreudig und konfliktfähig. Doch diese Bilder sind häufig fremdbestimmt und energieraubend.

Die entscheidende Frage lautet deshalb: Woher nehme ich meine Kraft? Die Antwort liegt oft in der Kindheit. Was haben wir als Kinder leidenschaftlich gern getan? Und wie lässt sich dieses Element in den Berufsalltag integrieren? 

In Führungstrainings lasse ich Teilnehmende darüber sprechen, was sie als Kinder begeistert hat und was davon sich im heutigen Beruf wiederfinden lässt. Die Wirkung ist verblüffend: Freude kehrt zurück. Menschen erkennen, dass sie nicht einem Idealbild entsprechen müssen. Sie dürfen mit ihrer Persönlichkeit führen. 

Eine weitere Quelle innerer Stärke ist der Sinn. Welche Hoffnung vermittle ich durch meine Arbeit? Wer spürt, dass er Hoffnung stiftet, schöpft Energie. Klar, Hoffnung ist kein betriebswirtschaftlicher Strategiebegriff. Doch Strategie allein bewegt nichts. Hoffnung dagegen ist emotional. Sie inspiriert. 

Unsere Geschäftswelt ist sehr monetär geprägt. Viele Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, wirtschaftlichen Erfolg mit ethischen Werten zu vereinen. Wie gelingt das? 

Natürlich muss ein Unternehmen profitabel sein. Doch entscheidend ist, wo Führung ansetzt: bei den Zahlen oder bei den Menschen. Wer bei Letzteren beginnt, legt die Grundlage für nachhaltigen Erfolg. Denn nur wo Menschen innerlich beteiligt sind, entsteht jene Energie, die Unternehmen langfristig trägt. 

Angst dagegen lähmt, führt zu Spaltung und Misstrauen. Deshalb sind Werte wie Vertrauen, Zugehörigkeit und Respekt keine «weichen» Faktoren, sondern strategische Ressourcen. Mitarbeitende wollen mitdenken, mitentwickeln und mitverantworten. Wer dagegen nur Effizienz predigt, läuft Gefahr, das Potenzial seines Teams zu verschenken. Führung durch Angst mag kurzfristig funktionieren, langfristig ist sie fantasielos.

Jüngere Generationen fordern immer mehr im Arbeitskontext – vor allem eine sinnvolle Tätigkeit. Wie schafft man ein Umfeld, in dem sie echten Sinn in ihrer Arbeit finden? 

Was bedeutet «sinnvolle Arbeit»? Die Antwort darauf ist individuell. Für die einen ist es die direkte Wirkung ihrer Tätigkeit, etwa im sozialen oder ökologischen Bereich. Für andere liegt der Sinn eher in der persönlichen Weiterentwicklung, im Teamzusammenhalt oder darin, Teil eines grösseren Ganzen zu sein. Natürlich gibt es auch Aufgaben, die keinen tieferen Sinn vermitteln, aber trotzdem notwendig sind. Nicht jede Tätigkeit wird von jedem als sinnvoll empfunden und muss den grossen Sinn erfüllen, aber jede Arbeit kann einen kleinen Beitrag zu einem grösseren Ganzen leisten. Und genau dort beginnt die echte Sinnhaftigkeit. 

Aber wer übernimmt Routineaufgaben, wenn alle nur noch Sinn suchen? 

Ich erinnere mich an einen Mitarbeiter, der sich als überqualifiziert empfand. Aber man kann nicht immer sofort den Chefposten übernehmen, sondern es ist wichtig, auch Aufgaben zu übernehmen, die vielleicht sogar unter der eigenen Qualifikation liegen. Das habe ich auch schon gemacht. Manchmal entsteht gerade durch diese Demut ein ganz neuer Blickwinkel. Wenn man zu hohe Ansprüche hat, wird man nie zufrieden sein. Es geht also nicht nur um den Sinn der Arbeit, sondern auch darum, was man selbst daraus macht. 

Viele Menschen haben heute Angst vor der  Zukunft. Was ist für Sie der Schlüssel, um Zuversicht zu bewahren?

Hoffnung. Sie ist nicht nur zweckoptimistisches Denken. Hoffnung bedeutet, dass auch die Möglichkeit besteht, dass meine Erwartungen nicht erfüllt werden. Zurzeit gibt es viel Negatives: die Politik, den Klimawandel und vieles mehr. Davor darf man die Augen nicht verschliessen, aber wenn ich mich nur ohnmächtig fühle, dann verliere ich die Zuversicht. Hoffnung heisst, dass es Wege gibt, aus Krisen herauszukommen. Man darf sie deshalb nie verlieren. 

Gibt es einen Ratschlag, den Ihr jüngeres Ich gern von Ihnen mit 80 Jahren bekommen hätte... 

Das Leben zu nehmen, wie es kommt, und darauf zu vertrauen, dass es am Ende schon richtig ist.

... und was möchten Sie Ihren Mitmenschen mit auf den Weg geben? 

«Verwandlung» statt «Veränderung»: Heute sprechen alle von Veränderung, aber «Change» hat oft etwas Aggressives: Es muss sich etwas ändern. Es muss besser werden. Aber Verwandlung ist ein viel tieferer Prozess, der auch das eigene Selbst betrifft. Ich bin noch nicht der Mensch, der ich eigentlich sein sollte – und das gilt auch für eine Firma. Wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten, aber wir müssen zuerst anerkennen, was wir erreicht haben, bevor wir ständig nach vorne streben.

Anselm Grün

Anselm Grün ist Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Bekannt wurde er als Führungskräftetrainer, Autor spiritueller Bücher sowie Referent. Bis 2013 war er als Cellerar für die wirtschaftlichen Belange der Abtei zuständig. Mittlerweile widmet er sich ganz dem Schreiben, seiner Vortragstätigkeit und seinen Kursen im Gästehaus der Abtei.
abtei-muensterschwarzach.de

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Christine Bachmann ist die Chefredaktorin von Miss Moneypenny.

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