Premium Icon Reihe: Wie funktioniert mein Gehirn?

Weniger scrollen, mehr leben

Das bisschen Reels anschauen am Abend kann ja nicht so schlimm sein, oder? Gastautorin und Neurowissenschaftlerin Barbara Studer erklärt, wie Social Media das Denken verändert und was wir für die digitale Balance tun können.

Soziale Medien gehören längst zu unserem Alltag. Ob im Zug, im Büro oder zu Hause auf dem Sofa, fast jede freie Minute scheint wie von selbst zum Scrollen, Liken oder Reagieren bestimmt. Doch was macht dieser permanente Konsum mit unserem Gehirn? Aus neurowissenschaftlicher Sicht ähneln die Mechanismen, die durch soziale Medien ausgelöst werden, erstaunlich stark denen, die auch bei Substanzen wie Nikotin oder Zucker wirken. Es sind dieselben Belohnungskreisläufe, die aktiviert werden, nur eben in digitaler Form.  

Wie wirkt Social Media auf das Belohnungssystem?

Wenn wir eine Nachricht erhalten, einen Like bekommen oder ein spannendes Video sehen, schüttet unser Gehirn Dopamin aus. Dieser Neurotransmitter, der auch als «Glückshormon» bekannt ist, signalisiert: «Das lohnt sich, mach weiter!» Genau so lernen wir, immer wieder zum Smartphone zu greifen. Das Problem dabei ist, dass die natürlichen Rhythmen der Dopamin-Ausschüttung aus dem Gleichgewicht geraten. Anstatt durch reale Erlebnisse, Begegnungen oder kreative Tätigkeiten belohnt zu werden, reagieren wir zunehmend auf kurze, digitale Reize. 

Langfristig führt diese Überstimulation dazu, dass die Dichte und Sensitivität der Dopamin-Rezeptoren im Gehirn sinkt. Das ist ein Anpassungsprozess, der auch in der Suchtforschung beschrieben wird. Das bedeutet, dass das Belohnungssystem weniger stark auf Reize reagiert, die früher Freude und Motivation ausgelöst haben, etwa ein tiefgründiges Gespräch, ein Spaziergang im Wald oder das Erreichen eines selbstgesetzten Ziels. Es verlangt nach immer mehr Input, um das gleiche Level an Befriedigung zu erreichen. Weitere Folgen können emotionale Abstumpfung, Antriebsschwäche und eine sinkende Stressresilienz sein. 

Gerade für die Aufmerksamkeit ist das gravierend: Das Gehirn lernt, sich auf schnelle, leicht verfügbare Reize zu fokussieren, während langanhaltende Konzentration und «Deep Work» immer schwieriger werden. Mentale Erschöpfung, Gereiztheit und das Gefühl innerer Leere können entstehen. Studien zeigen, dass genau dieser Mechanismus das Risiko für depressive Symptome erhöhen und die Fähigkeit zur Selbstregulation mindern kann. 

Der Frontallappen unter Druck 

Noch deutlicher wird der Effekt im präfrontalen Kortex, also dem Bereich direkt hinter unserer Stirn. Dieses Areal des Gehirns ist entscheidend für Konzentration, Planung, Impulskontrolle und das Setzen von Zielen. Studien zeigen, dass eine dauerhafte Reizüberflutung durch soziale Medien die Effizienz dieser Region schwächen kann. Als Folge fällt es uns schwerer, über längere Zeit konzentriert zu arbeiten; wir lassen uns leichter ablenken und greifen häufiger zu schnellen, kurzfristigen Entscheidungen statt zu wohlüberlegten Handlungen.

Gerade die Kombination aus einem überstimulierten Belohnungssystem und einem geschwächten präfrontalen Kortex ist für unsere mentale Gesundheit problematisch. Sie begünstigt Stress, Erschöpfung und das Gefühl, getrieben zu sein, statt unser Leben aktiv zu gestalten. 

Digitale Achtsamkeit – wie funktioniert das?

Die gute Nachricht lautet, dass wir diesem Mechanismus nicht hilflos ausgeliefert sind. Unser Gehirn bleibt zeitlebens formbar. Wer bewusst neue Gewohnheiten etabliert, kann sein Belohnungssystem wieder ins Gleichgewicht bringen und den Frontallappen stärken. Digitale Achtsamkeit bedeutet, die Nutzung sozialer Medien aktiv zu gestalten, statt sich von ihnen treiben zu lassen. Wir können digitale Reize bewusst dosieren und dem Gehirn Erfahrungen geben, die natürliche Dopamin-Zyklen stärken. 

Vier konkrete Strategien  

  1. Offline-Zeiten bewusst einbauen: Starten Sie den Tag ohne Smartphone und legen Sie es mindestens eine Stunde vor dem Schlafengehen weg. Gerade diese Zeiten sind entscheidend, weil sie die Grundstimmung für den Tag prägen und die Schlafqualität verbessern.
  2. Smartphone-freie Zonen schaffen: Gestalten Sie bestimmte Räume oder Situationen bewusst digitalfrei: das Schlafzimmer, den Esstisch oder Spaziergänge in der Natur. So trainieren Sie Ihr Gehirn, wieder mehr im Hier und Jetzt zu sein.
  3. Notifications ausschalten: Jede Push-Nachricht ist ein kleiner Dopamin-Kick – und gleichzeitig eine Unterbrechung, die Energie kostet. Wer die Benachrichtigungen abstellt, senkt nicht nur Stress, sondern stärkt die Fähigkeit zum längeren, tiefen Arbeiten.
  4. Mehr kreieren statt konsumieren: Nutzen Sie die Zeit, die Sie durch weniger Social Media gewinnen, für kreative Tätigkeiten: Schreiben, Musizieren, Kochen oder Gärtnern. Kreative Prozesse aktivieren das Gehirn in ganz anderer Weise und fördern Wohlbefinden und Resilienz. 

Natur als Heilmittel für das Gehirn 

Ein besonders wirksamer Gegenspieler zu digitaler Überreizung ist die Natur. Sogenanntes Waldbaden, in Japan als Shinrin-Yoku bekannt, ist viel mehr als ein Spaziergang im Grünen: Studien zeigen, dass Pflanzen flüchtige Substanzen wie Phytonzide und Terpenoide abgeben, die beim Einatmen unser Immunsystem aktivieren, die Zahl und Aktivität natürlicher Killerzellen steigern und so die Abwehrkräfte stärken können. Gleichzeitig wirken ätherische Öle beruhigend, senken den Cortisolspiegel und aktivieren das parasympathische Nervensystem, was Stress reduziert, die Herzfrequenz senkt und den Blutdruck reguliert. 

Zusätzlich trägt die Bewegung im Wald zur besseren Durchblutung, Sauerstoffversorgung und Muskelspannung bei. Dies wiederum ist ein direkter Gewinn für körperliche und mentale Fitness. Der Wald wirkt damit wie ein ganzheitliches Trainings- und Regenerationsumfeld: Er stärkt das Immunsystem, reduziert Stress, fördert die Konzentration und steigert das Wohlbefinden. Somit ein kostenloses, hochwirksames «Natur-Fitnessstudio» für Körper und Geist. Wer also regelmässig digitale Pausen mit Aufenthalten im Freien kombiniert, gibt seinem Gehirn die besten Voraussetzungen für Regeneration.

Vom Reagieren zum Gestalten 

Letztlich geht es nicht darum, soziale Medien pauschal zu verteufeln. Sie können inspirieren, verbinden und wertvolle Informationen liefern. Entscheidend ist, wie wir sie nutzen: reaktiv – also getrieben von Impulsen und Algorithmen – oder aktiv, indem wir selbst bestimmen, wann, wie lange und wofür wir online gehen. Und indem wir weniger konsumieren und mehr aktiv nutzen und kreieren. Und nicht zuletzt natürlich mehr Austausch im echten Leben, mehr Zeit für das, was uns inspiriert, nährt und trägt.  Denn am Ende gilt: Aufmerksamkeit ist die wertvollste Ressource, die wir besitzen. Hüten wir sie gut und setzen wir sie fürs Gestalten statt Konsumieren ein.

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Dr. Barbara Studer ist Neurowissenschaftlerin, Unternehmerin und Musikerin. Mit der Hirncoach AG bietet sie wissenschaftlich fundierte digitale Programme für die Förderung der mentalen Gesundheit und Gehirnfitness in jedem Lebensalter an. Daneben doziert Barbara an der Universität Bern und hält inspirierende Referate.  
hirncoach.ch 
studertalk.ch

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